Schöner als die Einsamkeit by Yiyun Li

Schöner als die Einsamkeit by Yiyun Li

Autor:Yiyun Li [Li, Yiyun]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446250048
Herausgeber: Carl Hanser Verlag München 2015
veröffentlicht: 2015-09-28T00:00:00+00:00


12

DIE FEIERLICHKEITEN AUF dem Tiananmen-Platz am 1. Oktober waren vorüber; ohne Zwischenfälle, dachte Moran enttäuscht, da sie sich gefragt hatte, ob die Leute Mittel und Wege finden würden, um gegen die Veranstaltung zu protestieren, die nur vier Monate nach dem Blutvergießen dort stattfand. Das Massaker warf nur einen kleinen Schatten auf diesen Tag, auch wenn es nicht vergessen war. Weder kletterte jemand auf eine Straßenlampe, um Slogans zu rufen, noch kam es zu organisierten Sabotageakten – eine selbstgefertigte Rohrbombe, die in die Menge geworfen wurde, nicht um die Menschen zu verletzen, sondern um Chaos zu verursachen, ein falscher Alarm, damit der Platz evakuiert wurde –, wie sie und Boyang es sich erhofft hatten.

Das einzige Drama an diesem Tag ereignete sich früher am Nachmittag. In der Schule verteilte Direktorin Liu zwei Lippenstifte pro Klassenzimmer und erklärte, der Bezirk habe die Order ausgegeben, dass die Mädchen festlich aussehen sollten. Niemand wies darauf hin, dass es in der Schule verboten war, Make-up zu tragen, wie es in den Vorschriften unzweideutig festgelegt war. Als Ruyu an der Reihe war, gab sie den Lippenstift an das nächste Mädchen weiter, ohne ihn zu benutzen.

»Und warum nicht?«, fragte die Klassensprecherin. »Er ist nicht giftig.«

Moran wurde aufgeregt und war bereit, ihre Freundin zu verteidigen. Ruyu war nicht jemand, der Ärger machte und ungebührlich Aufmerksamkeit auf sich zog, auch wenn sie sich nicht wie gefordert festlich gekleidet hatte. Sie trug ein langärmliges, grünlich graues Baumwollkleid, das sie von Zuhause mitgebracht hatte; das einzig Farbige an ihr war das rote Stoffband – knallig auf ihrer blassen Haut –, das zum Tanzen erforderlich war und das sie sich ums Handgelenk gebunden hatte im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die das Band um den Hals oder als Stirnband oder sogar als Blume auf der Brust trugen.

Es ist nicht hygienisch, antwortete Ruyu. Die Klassensprecherin starrte sie an, entsetzt über einen so unverschämten Kommentar, doch Ruyu lächelte nur kurz; ihre Verachtung, die sie nicht zu verbergen suchte, stand im Gegensatz zur Wut der Klassensprecherin, die mit gerötetem Gesicht und bebender Brust Worte halb formte und ausspuckte.

Die Klassensprecherin war kein nettes Mädchen, und Moran war klar, dass sie zu jemandem heranwachsen würde, der ohne zu zögern alle misshandeln würde, die weniger Glück hatten als sie. Dennoch tat sie Moran leid, die fürchtete, in Ruyus Augen eine ähnliche Rolle wie die Klassensprecherin einzunehmen. Moran seufzte und trat zwischen die beiden. »Mach doch deswegen kein solches Theater«, sagte sie versöhnlich zur Klassensprecherin. »Sonst denkt Direktorin Liu noch, dass du für die Aufgabe nicht geeignet bist.«

Am Abend schienen alle Spaß zu haben. Die Schüler bildeten dichte Gruppen, die Lautsprecher dröhnten über das Meer der Menschen hinweg die vierzehn Lieder, zu denen sie tanzen mussten. Jede halbe Stunde gab es eine fünfzehnminütige Pause für ein Feuerwerk.

Wenn von dem Krach die Erde erbebte, sah Moran ihre Mitschüler jubeln, die nach oben gewandten Gesichter von den Explosionen am Himmel erhellt. Ein Junge stieg auf die Schultern eines anderen Jungen und forderte die Menge auf: »Schaut her!« Ein paar wenige blickten zu ihm, und als der Junge wieder heruntergesprungen war, schwärmte er von der Menschenmenge.



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